Jahrzehntelang sexuelle Gewalt im Ev. Kirchenkreis Siegen?
Veröffentlicht: Mittwoch, 07.05.2025 09:18
Ein externer Bericht hat Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen einen Kirchenmitarbeiter im ehemaligen Ev. Kirchenkreis Siegen untersucht. Auch die Rolle der ehemaligen Siegener Superintendentin sowie späteren westfälischen Präses und EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus wird kritisch gesehen.

Eine externe Überprüfung von Vorwürfen sexualisierter Gewalt gegen einen früheren Mitarbeiter einer Kirchengemeinde im ehemaligen Ev. Kirchenkreis Siegen sieht auch die Rolle der früheren Siegener Superintendentin, westfälischen Präses und EKD-Ratsvorsitzenden - Annette Kurschus - kritisch. Die unabhängige Unternehmensberatungsfirma Deloitte, die von der Leitung der Ev. Kirche von Westfalen (EKvW) mit einer Untersuchung beauftragt worden war, weist beim Umgang mit den Vorwürfen auf mehrere Defizite hin.
Gegen den früheren Mitarbeiter des heutigen Ev. Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein waren im November 2023 Vorwürfe sexuellen Fehlverhaltens öffentlich geworden. Kurschus war in der Folge als Ratsvorsitzende der Ev. Kirche in Deutschland (EKD) und als westfälische Präses zurückgetreten.
Kritik an Kurschus und Kirchenleitung
Kurschus sei in ihrer Funktion als Präses im Oktober 2022 von einer Gemeindepfarrerin über potenzielle Vorwürfe der sexualisierten Gewalt informiert worden, heißt es im Abschlussbericht von Deloitte. Sie habe die Hinweise innerhalb der Kirche weitergegeben. «Die Kirchenleitung der EKvW wurde in Gänze im April 2023 informiert.» Es sei zu einem internen Konflikt im Landeskirchenamt und «gegenseitigem Vertrauensverlust auf der Führungsebene der EKvW» gekommen.
«Auf Basis externer Beratung sowie behördlicher Vorgaben haben sich die EKvW und die damalige Präses für eine passive Kommunikationsstrategie entschieden.» Es habe einen Mangel an Transparenz gegeben, der zu hohem medialen Druck und fehlendem Rückhalt innerhalb der kirchlichen Gremien geführt habe - und damit letztlich zum Rücktritt von Kurschus. «In Bezug auf diese Fragestellung sowie auf weitere fragliche Zusammenhänge wird eine juristische Überprüfung möglichen Fehlverhaltens gegen beteiligte Personen angeregt», rät der Sonderbericht.
Gewalt über fast vier Jahrzehnte
Die Vorwürfe gegen den Kirchenmusiker waren über einen Bericht der «Siegener Zeitung» öffentlich bekanntgeworden. Laut Deloitte-Bericht haben sieben Betroffene gegen ihn Vorwürfe erhoben, bezogen auf den Zeitraum seit den 1980er-Jahren bis 2022. Alle seien Orgelschüler gewesen. Der Befragte habe sexuelle Kontakte zu zwei Betroffenen eingeräumt. Ob sie zu dem Zeitpunkt noch minderjährig waren, ließ sich laut Untersuchung nicht klären.
Der ehemalige Mitarbeiter habe weitere Annäherungen oder Handlungen abgestritten. Aber: «Dem stehen durch die Untersuchung gewonnen Ergebnisse entgegen», berichtete Deloitte.
Wie lange wusste Kurschus schon Bescheid?
Schon in den 1990er-Jahren hätten die Dienstvorgesetzten des Kirchenmusikers Kenntnis von den Vorwürfen erhalten, es habe aber keine formelle Untersuchung gegeben, ist in dem unabhängigen Bericht zu lesen. Kurschus sei in den 90ern Pfarrerin im Entsendungsdienst in Siegen in einer Nachbargemeinde gewesen - also in einer Art Probedienst tätig - und mit der Ehefrau des Beschuldigten eng befreundet gewesen.
Kurschus «mit sich im Reinen»
Dass sich Kurschus und der damalige Mitarbeiter gut kannten, war schon zuvor bekannt. In dem Zeitungs-Bericht hatten mehrere Männer den Vorwurf erhoben, Kurschus habe von den Missbrauchsvorwürfen gewusst, aber nicht adäquat reagiert. Kurschus hatte den Rücktritt von ihren Spitzenämtern im November 2023 mit einem öffentlichen Vertrauensverlust begründet, zugleich aber betont, sie sei in der Sache mit sich im Reinen: «Ich habe zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.»
Kirche räumt Versagen ein
Dass der Beschuldigte über Jahrzehnte hinweg Grenzen der sexuellen Selbstbestimmung ihm anvertrauter Schüler verletzen konnte, stelle ein Versagen der evangelischen Kirche dar, räumten die leitenden Geistlichen der EKvW und des Ev. Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein ein. «Die Evangelische Kirche von Westfalen benennt und bekennt dieses Versagen gegenüber den Betroffenen und der Öffentlichkeit», sagte der Theologische Vizepräsident der EKvW, Ulf Schlüter, auf einer Pressekonferenz am Dienstag (06.05.) in Siegen.
Die EKvW werde aus dem Bericht Konsequenzen ziehen, «mögliche Pflichtverstöße Beteiligter prüfen und Verfahren zur Prävention und Intervention sexualisierter Gewalt weiter verändern und verbessern».
Schlüter wies darauf hin, dass der Ev. Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein im März 2023 ein Interventionsteam eingerichtet, Betretungsverbote gegen den Mann ausgesprochen sowie Anzeige bei der Staatsanwaltschaft gestellt habe. Es habe Gespräche mit den Betroffenen gegeben, das Interventionsteam arbeite bis heute an der Aufklärung der Sachverhalte. Allerdings fehlten für ein übergreifendes, gemeinsames Handeln der beteiligten Ebenen der EKvW Standards und verlässlichen Verfahren. Kommunikationsprozesse seien defizitär und intransparent gewesen.
Fälle juristisch verjährt
Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren gegen den Kirchenmitarbeiter im Jahr 2024 eingestellt. Aus strafrechtlicher Sicht sei dem Mann kein sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen vorzuwerfen, hatte die Ermittlungsbehörde in Siegen mitgeteilt. In den geprüften Verdachtsfällen sei entweder kein Straftatbestand erkennbar oder die Fälle seien verjährt.



